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Vorbemerkung

Gerhard Schmitz

Die auf den folgenden Seiten präsentierte lateinisch-deutsche Fassung der Vita Benedicti Anianensis ist das Ergebnis einer Übung, die im Wintersemester 2003/04 stattgefunden hat. Im vorausgehenden Wintersemester 2002/03 hatte ich eine Vorlesung über die "Geschichte des europäischen Mönchtums bis zur Gründung der Reformorden" angeboten, in der auf die den einzelnen Themenkomplexen zugrunde liegenden Quellen besonderer Wert gelegt wurde.

Die Quellen für die Klosterreform, die unter der Leitung Benedikts von Aniane zur Zeit Ludwigs des Frommen stattgefunden hat, sind an Zahl und Umfang eigentlich dürftig. Während die Kanonikerreform von 816 vom Umfang her eindrucksvoll und von der Überlieferungsdichte beachtlich ist [1], nimmt sich das, was uns über die Mönchsreform berichtet wird, eher spärlich aus: Von einer speziellen Behandlung monastischer Fragen im Jahre 816 berichtet eigentlich nur das sog. Chronicon Laurissense breve in seiner Fuldaer Fortsetzung mit folgenden Worten: Anno III. Hludovichi factum est concilium magnum in Aquisgrani in mense Augusto et praeceptum est, ut monachi omnes cursum sancti Benedicti cantarent ordine regulari, et duo scripti sunt, unus de vita clericorum et alter de vita nonnarum [2]. Das Chronicon Moissiacense berichtet zum Jahre 816 ausführlich von der Anwesenheit Papst Stephans im Frankenreich und von der neuerlichen Krönung Ludwigs in Reims und vermerkt dann nur noch, Ludwig sei nach Compiègne gereist et ibi habuit consilium cum episcopis, abbatibus et comitibus suis [3], ohne zum Ergebnis dieser Beratungen auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten zu lassen.

Zum Jahre 817 wird in den historiographischen Quellen nirgendwo etwas von einer Synode berichtet, die sich mit Fragen der monastischen Disziplin beschäftigt habe. Wir wissen davon nur auf Grund eines eher versprengten Dokuments: Josef Semmler hat unter dem Titel "Synodi secundae Aquisgranenses decreta authentica" eine 43 Kapitel umfassende kleine Sammlung veröffentlicht, die sich selbst wie folgt datiert: Anno incarnationis domini nostri Iesu Christi DCCCXVIImo imperii uero gloriosissimi principis Hlodouuici <quarto> anno VI. idus ivlii cum in domo Aquis palatii quae Lateranis dicitur abbates cum quam pluribus residerent monachis haec quae subsequuntur capitula communi consilio ac pari uoluntate inuiolabiliter obseruari decreuerunt [4]. Demzufolge hätte also am 10. Juli 817 in Aachen eine größere Synode stattgefunden, deren Datierung – mit Ausnahme der Tagesangabe – fast wörtlich übereinstimmt mit dem sog. Capitulare monasticum primum bzw. den "Synodi primae Aquisgranensis decreta authentica" vom 23. August 816 [5]. Und sie stimmt wiederum fast wörtlich überein – und diesmal unter Einbeziehung der Tagesangabe – mit dem von Semmler "Regula Sancti Benedicti Abbatis Anianensis sive collectio capitularis" genannten Stück, das sich im wesentlichen als eine Kompilation des ersten und zweiten monastischen Kapitulars darstellt und das als Abschluss der ganzen monastischen Gesetzgebungsprozedur von "818/819?", jedenfalls nicht von 817, stammen soll. Wenn man bedenkt, dass die sog. Synodaldekrete von 817 nur mehr in einer einzigen Handschrift auf uns gekommen ist und dass man sich bei Abschluss der legislatio monastica nicht die Mühe gemacht haben sollte, wenigstens das Datum anzupassen, dann kann man an jener Synode von 817 oder an der von 818/819 durchaus Zweifel haben. Jedenfalls ist sie nicht gut bezeugt.

Zum Jahre 819 berichten wenigstens die Reichsannalen von einer Synode, hinsichtlich ihres Inhaltes fassen sie sich aber kurz: conventus Aquisgrani post natalem Domini habitus, in quo multa de statu ecclesiarum et monasteriorum tractata atque ordinata sunt ... [6] Durchmustert man das bei dieser Gelegenheit erlassene Capitulare ecclesiasticum, so wird man mit Blick auf die Mönche lediglich in c. 5 fündig. Der Text lautet: Monachorum siquidem causam, qualiter Deo opitulante ex parte disposuerimus et quomodo ex se ipsis sibi eligendi abbates licentiam dederimus et qualiter Deo opitulante quiete vivere propositumque suum indefesse custodire valerent ordinaverimus, in alia scedula diligenter adnotari fecimus; et ut apud successores nostros ratum foret et inviolabiliter conservaretur, confirmavimus [7]. Demzufolge hätte Ludwig also schon vor Erlass des Capitulare ecclesiasticum in einem anderen Kapitular die Angelegenheiten der Mönche geregelt, und zwar höchst wichtige wie die generelle Erlaubnis, den Abt aus der eigenen Klosterbesatzung zu wählen. Auch Regelungen, die das "ruhige Leben" der Mönche betreffen und die ihnen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, indefesse ihrem Gelübde leben zu können, hören sich nicht an, als ob hier Marginalien geregelt oder Petitessen entschieden worden seien. Und wenn dieses Kapitular noch den Zusatz getragen haben sollte, dass es sozusagen auf ewige Zeiten gedacht und von allen Nachfolgern zu beachten war, dann müssten wir uns darunter ein eher feierliches und förmliches Stück vorstellen. Höchst merkwürdig nur, dass davon kein einziges Exemplar auf uns gekommen sein sollte. Es ist kaum zu verstehen, dass die Klöster, die in diesem Fall doch Betroffene waren, als Hauptträger der Überlieferung karolingischer Schriftquellen nicht eine einzige Abschrift davon genommen haben sollten ...

Was sonst vom Jahre 819 noch übrig geblieben ist, ist die sog. "Notitia de servitio monasteriorum", ein Verzeichnis, das die Abgaben und Lasten aufführt, die die Klöster (aber längst nicht alle) angeblich leisten sollten – ein Dokument, das keineswegs über alle Zweifel erhaben ist und für das in der jüngsten Edition im Corpus consuetudinum monasticarum keine einzige Handschrift herangezogen werden konnte und das sich selbst auf DCCCXVIII datiert [8].

Halten wir also fest: Aus historiographischen Quellen erfahren wir über die Gesetzgebung für und über das Mönchtum lediglich, dass Ludwig die Regula Benedicti als allein maßgebliche Richtschnur mönchischen Lebens durchzusetzen versuchte, was wir sonst noch wissen, ist – verglichen mit dem für die Kanoniker getriebenen Aufwand – eher dürftig. Vollends verlautet nichts über die spezielle Rolle Benedikts von Aniane. An Kapitularien, als Kapitularien betrachteten oder kapitularienähnlichen Dokumenten haben wir ein mäßig verbreitetes Kapitular, das sich auf 816 datiert, ein ausgesprochen schwach überliefertes (eine Handschrift), das auf 817 datiert, sowie ein weit verbreitetes, das sich selber ebenfalls 817 zuordnet, aber später, 818/819 entstanden sein soll und als "Regula sancti Benedicti abbatis Anianensis sive collectio Capitularis" bezeichnet wird – teils nicht recht zuordnungsfähige Nebendokumente bleiben hier außer Betracht. Das ist für eine Gesetzgebung, die doch "culmen et cardo ... priscae Benedictinae rei evolutionis" [9] sein soll, nicht eben sehr viel.

Vor allem ist die Bilanz enttäuschend, wenn wir nach ausdrücklichen Berichten über das Wirken und den Einfluss Benedikts von Aniane fragen. Keines der aufgeführten Dokumente berichtet etwas von seiner Mitwirkung [10], geschweige denn von seiner Verfasserschaft. Die historiographischen Quellen sind kaum gesprächiger: Die Reichsannalen kennen seinen Namen nicht, und aus dem Chronicon Moissiacense erfahren wir lediglich, dass Ludwig nach seiner Thronbesteigung Benedikt von Aniane an den Hof berufen und dieser in seinem Stammkloster den Abt Smaragd installiert habe [11]. Der sog. Astronomus berichtet in c. 28 seiner Vita Hludowici imperatoris im Anschluss an seine Ausführungen über die Kanonikerreform: "Zugleich gab der gottgefällige Kaiser dem Abt Benedikt und mit ihm Mönchen von untadeligem Lebenswandel den Auftrag, von einem Kloster des Mönchsordens zum andern zu gehen, um in sämtlichen Männer- und Frauenklöstern ein einheitliche, unveränderliche Lebensweise nach der Regel des heiligen Benedikt einzuführen" [12]. Freilich: Diese Vita ist frühestens zwanzig Jahre nach dem Ableben Benedikts entstanden, und niemand vermag abzuschätzen, in welchem Ausmaß die Traditionsbildung seine Rolle gefärbt hat. Früher (und damit wohl auch: authentischer) ist Ermoldus Nigellus, der sein Lobgedicht auf Kaiser Ludwig 826/28 vollendete und der im Kontext der von Ludwig angestoßenen Klosterreform über Benedikt berichtet:

"Einst war ein Mann, Benediktus genannt, gar würdig des Namens,
     Denn viel Männer geführt hat zu den sternen der Mann.
Frühe durchschaut ihn bereits im gothischen Lande der König.
     Weniges über sein Thun sei mir zu sagen vergönnt.
Wie er verdient, war gesetzt bei der Anianischen Hürde
     Dieser zum Hirten und Abt, sanft war der Heerde sein sein Joch.
Als sich erfüllte das Herz des heiligen Königs mit hehrer
     Sehnsucht, zu heben fortan mönchische Regel und Art,
Da war dieser der Helfer und Richtsteig, Muster und Lehrer,
     Durch deß' Wirken nun Gott klösterlich Leben erfreut.
Seine heiligen Sitten beherrscht ein edeler Wille,
     So weit Menschen zu Schau'n möglich, war heilig er ganz.
Milde war er, geliebt und gütig und sanft und bescheiden,
     Und in der heiligen Brust ruhte die Regel so fest.
Nicht nur den Mönchen allein, nein Jeglichem war er Erbauung,
     Väterlich ward er ja selbst Alles für alle zugleich.
Deshalb hatt' ihn der Kaiser, der Fromme, zum Liebling erwählet
     Und ihn mit sich geführt hier in sein fränkisches Reich.
Jünger von diesem nun schickte der König hinaus in die Klöster,
     Daß sie den Brüdern als Norm dienten und Vorbild zugleich.
Ihnen gebeut er zu bessern was möglich, und was sie nicht können,
     Für ihn selbst zum Bericht niederzuschreiben genau.
Doch Benediktus, der Priester und mit ihm Hludwich der Fromme
     Nehmen das Amt in Bedacht, welches so theuer dem Herrn.
Drauf sprach Hludwich zuerst, ihn mahnend mit freundlichen Worten,
     Wie er es immer gepflegt, voll von der Liebe zu Gott:
"Selbst, Benediktus, erfuhrst du, so denk' ich, wie sehr mir der Orden,
     Stets an dem Herzen geruht, seit ich ihn näher erkannt.
Deshalb möcht' ich so gern ein besondres Heiligthum weihen
     Unfern unserem Sitz voll von der Liebe zum Herrn"" ... [13].

Substantielle Neuigkeiten erfahren wir über Benedicts Wirken auch von Ermoldus nicht.

Angesichts dieses Quellentableaus gewinnt Ardos Vita eine geradezu zentrale Bedeutung. Deshalb lag es nahe, diese Vita zum Gegenstand einer eigenen Übung zu machen. Was sagt die Vita über Benedict von Aniane, wie verhält sie sich zu den anderen Quellen, welche Nachrichten sind glaubwürdig, welche eher hagiographische Topoi? Dazu musste sie gelesen und übersetzt werden. Wohl gibt es französische und englische Übersetzungen dieser für die karolingische Mönchsreform unzweifelhaft wichtigen Quelle, aber keine deutsche. Wohl hat Walter Kettemann eine Neuedition mitsamt einer Übersetzung angekündigt, aber diese Dissertation ist noch nicht erschienen [14]. [Update 2008-05-19: Die Arbeit ist inzwischen erschienen: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=18245] Die Ergebnisse dieser Dissertation konnten natürlich nicht in die Übung einbezogen werden, sieht man von den großen Linien ab, die Kettemann in seinem Bericht in der Revue Mabillon selbst gezeichnet hat. Die eher regionalen Bezüge waren dabei für uns nicht weiter von Belang, wir haben das Augenmerk eher auf die Person Benedikts und die – wahrscheinlich nicht ganz untypische – Entwicklung zum benediktinischen Mönchtum sowie die Beziehungen zum Herrscher bzw. die Wirkungen auf das Reich gelegt. Dabei war die in jüngerer Zeit in der Forschung neu gestellte Frage nach der "anianischen" Reform und damit der Rolle Benedikts zu diskutieren. [15] War er – wie die ältere Forschung wollte – wirklich "Generalabt"? Markierte das Jahr 814 wirklich einen Bruch, einen Neuanfang, oder wurden nicht schon länger anhaltende Bestrebungen fortgesetzt und verstärkt? Welche Rolle spielte die Vita Ardos bei der Entwicklung dieser Sicht, inwieweit ist sie ergänzender, inwieweit einziger (und dann: glaubwürdiger) Nachrichtenträger?

Die Vita Bendicti aus der Feder Ardos ist für die Beurteilung dieser Frage zentral.

Wir haben sie deshalb ganz gelesen und übersetzt. Was den lateinischen Text angeht, so dürfte sich die bevorstehende Neuedition Kettemanns angesichts der Überlieferungslage nicht gravierend von dem in der Monumenta-Ausgabe gedruckten unterscheiden. Insofern schien uns hier ein im ganzen gutes Fundament gegeben. Unser Text folgt daher der MGH-Edition von Georg Waitz (MGH SS 15/1). Hinzugezogen wurde der Abdruck der wichtigsten Überlieferung bei @@@, jedoch wurden abweichende Lesarten lediglich dann erwähnt, wenn sie für das Textverständnis von Relevanz sind und nicht bereits in der Waitz'schen Edition verzeichnet sind.

Der lateinische Text wurde an ausgewählten Stellen mit Anmerkungen versehen. Hierbei wurden manche textkritischen und sprachlichen Beobachtungen festgehalten, Sachanmerkungen wurden dort gesetzt, wo sie für das Verständnis des Textes geboten erscheinen. Vollständigkeit wurde bei der Kommentierung bewusst nicht intendiert: Vieles wird man vermissen, an anderen Stellen hingegen mag dem Leser die Kommentierung auch zu speziell und zu ausführlich erscheinen.

Mit der Übersetzung greifen wir Kettemann ein wenig vor, indem wir sie im Internet veröffentlichen. Aber das dürfte sich in jeder Hinsicht vertreten lassen: Jede Übersetzung ist auch schon irgendwie Interpretation. Zudem ist Ardos Text keineswegs immer leicht zu verstehen. Insofern wird jeder Benutzer es eher begrüßen, wenn er im Zweifelsfall zwei voneinander unabhängige Übersetzungen konsultieren kann – so, wie wir es begrüßt haben, in Zweifelsfällen die englische mit den französischen Übersetzungen vergleichen zu können. Ziel unserer "Internet-Ausgabe" ist es, Material für den akademischen Unterricht leicht und überall verfügbar zu machen: Die Mühe, die wir uns beim Übersetzen ein ganzes Semester lang gegeben haben, muß nicht von jedem wiederholt werden, der sich mit Ardos Vita beschäftigen oder sie benutzen möchte.

Zur Vita

Ardo hat die Vita Benedicti auf Bitten von Indener Mönchen geschrieben. Schon bald nach Benedikts Tod erreichte ihn in Aniane ein Bericht aus Inden, der die letzten Tage Benedikts schilderte und in dem der zumindest in den Augen der Aachener Mönche gelehrte Ardo um die Ausarbeitung einer Vita gebeten wurde. Dieser zögerte nach eigenem Bekunden etwa ein Jahr (Haec me annali continuit spatio und machte sich dann ans Werk. Demzufolge wäre die Vita also frühestens 822 begonnen worden. Den terminus ante quem darf man nicht allzu weit hinaufschieben. Der übliche Ansatz 'etwa 823' dürfte stimmen. Cabaniss versuchte, die Vita auf 824–826 einzugrenzen (The Emperor's Monk S. 34 ff.). Sein Hauptargument, Ermoldus Nigellus habe sie vermutlich schon gekannt, ist bedenkenswert, beweist aber lediglich, dass die Vita vor 827 entstanden sein müsste. Im übrigen trägt die Frage nicht sonderlich viel aus. Wichtig ist lediglich, dass sie zeitnah entstanden ist und von einem Autor stammt, der Benedikt persönlich gekannt hat, also aus eigenem Erleben berichtet. Andere 'Zeitzeugen', auf die Ardo sich hin und wieder beruft, haben die eine oder andere Episode beigesteuert, und so bietet die Vita einen lebendigen (und bisweilen überraschenden) Einblick in die monastischen Verhältnisse der zwanziger Jahre des 9. Jahrhunderts.

Was Benedikt angeht, so ist die Vita vor allem für dessen "inneren Werdegang" aufschlussreich: sein Weg vom (beinahe gescheiterten) Asketen zum engagierten Verfechter der Regel Benedikts von Nursia lässt sich in seinen einzelnen Stationen gut verfolgen. Wie glaubwürdig die Vita ansonsten ist, steht im Einzelfall dahin. Natürlich musste Ardo bestrebt sein, seinen 'Helden' im hellsten Licht erscheinen zu lassen. Das legt Übertreibungen nahe, und so wird man an der Schilderung des engen Verhältnisses zu Ludwig dem Frommen und seinem Einfluss auf den Kaiser ein paar Abstriche machen dürfen – vielleicht auch an Ausmaß und Erfolg der monastischen Reform insgesamt. Die Dürftigkeit der Quellen (siehe Vorbemerkung) stimmt hier ein wenig skeptisch.

Die Überlieferung der Vita ist erstaunlich dünn: Der einzig ernst zu nehmende Textzeuge ist das Cartulare Anianense (edd. A. Cassan / E. Meynial, Cartulaires des Abbayes d'Aniane et de Gellone, 1900): Cod. Montpellier, Archives Départementales de l'Hérault, H non coté aus dem zwölften Jahrhundert, die übrigen bis heute bekannten Überlieferungen (zusammengestellt CCM 1 S. 308 f.) sind eher "codices minoris momenti" und wenn überhaupt, wohl nur in Ausnahmefällen texttragend.

Der späten Überlieferung ist es auch zu danken, dass wir die Vita nur in 'interpolierter Gestalt' kennen: Die Erzählung über Graf Wilhelm von Gellone (c. 30 [42]) ist nach allgemeiner und wohl zutreffender Einschätzung eingeschoben und verdankt sich der Rivalität der Klöster Aniane und Gellone im 11. Jahrhundert. Weitere Interpolationen, wie sie von P. Bonnerue unter dem Rubrum "Nouvelles Hypothèses" S. 31–36 referiert bzw. entfaltet werden, mögen hier auf sich beruhen: Es sind fein gesponnene Hypothesen, deren Tragfähigkeit durch eine ganz neue Untersuchung des Textes, wie sie von Walter Kettemann zu erwarten ist, ermittelt werden muss.

Die späte Überlieferung kann sich zumindest teilweise auch auf das sprachliche Erscheinungsbild der Vita ausgewirkt haben. Über Ardos sprachliche Fähigkeiten gehen die Urteile nämlich auseinander. Georg Waitz konstatierte hinsichtlich seiner Lateinkünste bereits: "nihil fere linguae Latinae studiis Karoli M. tempore florentibus percepisse videtur" (MGH SS 15, 1 S. 199, 6 f.) und warf ihm eine ganze Reihe von grammatischen und syntaktischen Fehlern vor: "Accusativa absoluta vel accusativa et ablativa coniuncta abundant; neque praepositiones cum rectis casibus coniungit; barbaras vel corruptas formas ... usurpasse videtur" (S. 199 Anm. 2). Dem eher negativen Urteil Waitzens hat sich Fidel Rädle angeschlossen, während Löfstedt ihm immerhin an der einen oder anderen Stelle sprachliche Ambitionen unterstellte und Franz Brunhölzl zu dem Urteil kam: "Die Sprache hält das Niveau einer gepflegten, maßvoll die Mitte zwischen alltäglicher Rede und rhetorisch aufgeputztem Pomp einhaltender Prosa" (S. 444).

Aber wie sicher, so darf man fragen, lässt sich Ardos Sprache wirklich beurteilen? Zwischen Abfassung und Niederschrift des maßgeblichen Textzeugen liegen dreihundert Jahre, und der Codex trägt deutlich zeittypische Züge (vgl. die Beobachtungen von Waitz S. 199, 19 f.). Wer sagt, dass sich dies nur auf die Orthographie beschränkt? Man darf diese Frage um so nachdrücklicher stellen, als das Cartulare Anianense ohnehin nicht frei von Fehlern ist, im Gegenteil: "nonnullos locos ita reddidit, ut vix sensum sanum elicias" (S. 199, 23). Die Grenze zwischen orthographischer und sprachlicher Eigenart ist fließend: Zwischen einem Ablativus absolutus und einem Accusativus absolutus und vollends einem gemischten Ablativus und Accusativus absolutus liegen schließlich – zumindest beim Femininum – gerade mal ein bis zwei Kürzungsstriche. Es war unter anderem diese Unsicherheit, die uns veranlasst hat, die sprachlichen Beobachtungen namentlich von Rädle und Löfstedt vollständig auszuwerten. Der Benutzer unseres Textes wird so immerhin auf die Stellen aufmerksam gemacht, die bereits anderwärts aufgefallen sind. Ansonsten bleibt er allerdings auf seine eigene Einschätzung verwiesen...

Anmerkungen

[1] Letzte Zusammenstellung bei Hubert MORDEK, Bibliotheca capitularium manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (MGH Hilfsmittel 15, 1995) S. 1044–1058 (Institutio canonicorum und Institutio sanctimonialium).

[2] Hans SCHNORR VON CAROLSFELD, Das Chronicon Laurissense breve, in: NA 36 (1911) S. 38f. MGH SS 1 ed. Georg Heinrich PERTZ S. 122. 27–33 und abhängig davon die Annales Hildesheimenses (zum Jahr 815) und deren Derivate, MGH SS 3 S. 42 und SS rer. Germ. [8] ed. Georg WAITZ (1878) S. 15f. Das Chronicon Moissiacense berichtet zum Jahr 815: Et decrevit in ipsa synodo domnus imperator Ludovicus, ut in universo regno suo monachi regulariter viverent secundum regulam sancti Benedicti, et canonici secundum canonum auctoritatem (MGH SS 1 S. 311, 43–45).

[3] MGH SS 1 ed. Georg Heinrich PERTZ S. 312, 14f.

[4] CCM 1 S. 473, 5–9. Auch bei MORDEK, Bibliotheca S. 1005–1008.

[5] CCM 1 S. 457, 5–10. Auch bei MORDEK, Bibliotheca S. 999–1005.

[6] MGH SS rer. Germ. [6] ed. Friedrich KURZE (1895) S. 150.

[7] MGH Capit. 1 ed. Alfred BORETIUS (1883) S. 276, 24–28.

[8] CCM 1 S. 493, 2. Die Datierung ist durchaus nicht unumstritten, vgl. ebd. S. 485 Anm. 2.

[9] So Josef SEMMLER, Introductio, in: CCM 1 S. 425. Im übrigen vgl. Josef SEMMLER, Zur Überlieferung der monastischen Gesetzgebung Ludwigs des Frommen, in: DA 16 (1960) S. 309–388 und DERS., Die Beschlüsse des Aachener Konzils im Jahre 816, in: Zs. f. Kirchengeschichte 74 (1963) S. 15–82.

[10] Genannt wird Benedikt lediglich im "Modus penitentiarum Benedicti abbatis Anianensis", ed. Josef SEMMLER, in: CCM 1 Nr. 25 S. 571, 1–3: Excerptvs diversarvum modvs penitentiarvm a Benedicto abbate distinctvs de regvla sancti Benedicti abbatis. Allerdings ist die Überlieferung alles andere als einhellig. Außerdem ist Benedikt genannt in den nach seinem Tod entstandenen "Capitula qualiter" (CCM 1 Nr. 16 S. 353, 1–4: Item capitvla qvaliter observationes sacrae in nonnullis monasteriis habentvr, qvas bonae memoriae Benedictvs secvndus in coenobiis svis alvmnis habere institvit), aber auch hier ist es nur eine Handschrift, die diese Überschrift tradiert.

[11] MGH SS 1 S. 311, 27–331: Hoc anno suprascripto imperator Ludovicus, id est primo anno imperii sui, Benedictum abbatem de Aniano monasterio tulit propter famam vitae eius et sanctitatem, et prope Aquis, sedem regiam, in Ardenna silva habitare fecit; ipse vero supradictus abbas, antequam abiret in Francia, ordinavit in loco suo in monasterio Aniano abbatem nomine Smaragdum.

[12] MGH SS rer. germ 64 (1995) ed. Ernst TREMP S. 377 (Übersetzung), S. 376, 10–16: Itidemque constituit isdem Deo amabilis imperator Benedictum abbatem et cum eo strenue monachos per omnia vitae, qui per omnia monachorum euntes redeuntesque monasteria, uniformem cunctis traderent monasteriis, tam viris quam sanctimonialibus feminis, vivendi secundum regulam sancti Benedicti incommutabilem morem.

[13] Übersetzung nach Th. G. PFUND (neu bearb. von W. WATTENBACH), Ermoldus Nigellus, Lobgedicht auf Kaiser Ludwig und Elegien an König Pippin (Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit, 2. Gesamtausgabe 18, 2. Aufl., 1888) S. 46f. –

Vir Benedictus erat cognomine dignus eodem,
     Vir quoniam plures vexit ad astra viros,
Hic erat in Geticis regi prius agnitus arvis,
     De cujus vita pauca referre libet.
Hic fuit Anianae merito praelatus ovili
     Pastor et abba, gregi regula blanda suo.
Regis ut almus amor complerat pectora sacri,
     Quo monachorum ordo vitaque proficeret,
Hic fuit adjutor, norma, exemplumque magister,
     Quo faciente placent nunc pia castra Deo.
Moribus in sacris regnabat pulcra voluntas;
     Quantum homini licitum est cernere sanctus erat.
Dulcis, amatus erat, blandus, placidusque modestus,
     Regula cujus erat pectore fixa sacro.
Non solum monachis, sed cunctis proficiebat,
     Omnia factus erat omnibus ipse pater.
Ob hoc ergo pius Caesar dilexerat ipsum,
     Vexerat et secum ad Francica regna simul.
Hujus discipulos rex per coenobia mittit,
     Fratribus exemplum normaque sive forent,
Et jubet emendent quicquid potis est; nequeunt, quae,
     Ad sese referant cuncta notata stilo.
Rex pius interea, Benedictus et ipse sacerdos,
     Pectore versabant munia amata Deo.
Mox prior induperans blandis compellat eundem,
     Ut solitus, verbis semper amore pio:
"Scis, Benedicte, reor, qualis mihi cura sit hujus
     Ordinis a primo quo mihi notus erat.
Propterea cuperem propriumque dicare sacellum
     Haud procul nostra sed in amore Dei."

(Ermold le Noir, Poème sur Louis le Pieux et Épitres au roi Pépin, édités et traduits par Edmond PARAL (Les classiques de l'Histoire de France au Moyen Age 14, 1964) v.1184–1212, S. 92–94. Es folgt der Bericht über die Gründung von Inden.

[14] Walter KETTEMANN, Subsidia Anianensia. Überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchungen zur Geschichte Witiza-Benedikts, seines Klosters Aniane und zur sogenannten "anianischen Reform". Mit kommentierten Editionen der Vita Benedicti Anianensis, Notitia de servitio monasteriorum, des Chronicon Moissiacense/Anianense sowie zweier Lokaltraditionen aus Aniane. Thèse de doctorat, soutenue à l'université de Duisbourg, le 19 janvier 2000, dir. Dieter GEUENICH, in: Revue Mabillon N.S. 11 (2000) S. 321–323.

[15] Grundsätzlich: Dieter GEUENICH, Kritische Anmerkungen zur sogenannten "anianischen Reform", in: Mönchtum – Kirche – Herrschaft. 750–1000, hg. von Dieter R. BAUER u. a. (1998) S. 99–112.


Stand: 2004, gekennzeichnetes Update 2008-05-19.

Letzte Bearbeitung: $Date: 2008-10-23 19:52:24 $